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Wir haben alles – sogar Armut!

Von Gisela Niclas, Vorsitzende der SPD-Stadtratsfraktion, Sozialpolitische Sprecherin der SPD-Stadtratsfraktion

„Wir haben alles – sogar Armut“. Nicht nur unsere Veranstaltung zum Programmdialog für den Bereich „Soziales“ am 28. Februar 2007 trägt diesen Titel. Unter diese Überschrift stellte ich, damals noch in meiner Funktion als Sozialreferentin vor 14 Jahren, einen Leitartikel im Monatsspiegel. Ich zeigte darin die Ergebnisse des ersten Erlanger Armutsberichtes auf, der unter meiner Federführung erstellt worden war.

1992 sind 10% der Menschen in Erlangen arm. Nötig sind Hilfen bei der Erziehung und Betreuung der Kinder, kostengünstiger oder kostenloser Zugang zu Bildung, Kultur und Sport, preiswerter Wohnraum, Hilfen zur Qualifizierung und Arbeit.

Unser Konzept für Armutsprävention 1992

Lernstuben und Bücherbus erhalten, billiger Eintritt ins Schwimmbad, Ganztagesschule, Deutschkurse für ausländische Kinder, Stadtteilarbeit für Jung und Alt ausbauen, weiterer Neubau von Sozialwohnungen – das waren unsere sozialdemokratischen Antworten auf den Armutsbericht – trotz knapper Kasse!

Die bis dahin sehr sperrige CSU konnte mit dem Bericht endlich von der Notwendigkeit überzeugt werden, für langzeitarbeitlose SozialhilfeempfängerInnen das Programm „Hilfe zur Arbeit“ in der Zusammenarbeit von Sozialamt und GGFA auf den Weg zu bringen. Daraus wurde binnen weniger Jahre eine Erfolgsstory: Mit gezielten Qualifizierungs- und Arbeitsvermittlungsangeboten konnten viele Menschen in die Lage versetzt werden, wieder oder erstmals eigenständig ihre Existenz zu sichern. Die Erfahrungen aus diesem Programm sind eine der wesentlichen Voraussetzungen für die erfolgreiche Arbeit, die die GGFA im Rahmen der Option heute leistet.

Schwerpunkt der Fraktionsarbeit 2002 ff: Vorbeugende Sozialpolitik

Aber hier und heute geht es nicht um Rückschau. Es geht um die Gegenwart und die Zukunft. Die Fraktion arbeitet 10 Jahre nach dem ersten Erlanger Armutsbericht auch von der Oppositionsbank aus konsequent an ihren Schwerpunkten vorbeugender Sozialpolitik. Die Themen sind die gleichen. Mein Beitrag soll darüber informieren und gleichzeitig dazu anregen, aktiv am Programmdialog teilzunehmen. Am Beispiel „Erlangen Pass“ will ich die aktuellen Konfliktlinien in der kommunalen Sozialpolitik aufzeigen.

Ein Thema, das im Stadtrat und seinen Ausschüssen, aber auch mit von Armut Betroffenen, mit den sozialen Verbänden und Gruppen, mit den Kirchen u.a. lange diskutiert wurde, ist die Einführung eines sogenannten „Erlangen Passes“. 2005 hat die Fraktion einen entsprechenden Antrag gestellt. Die schwarz-gelbe Mehrheit hat ihn im Herbst 2006 abgelehnt.

Nachfolgend wird der Antrag dokumentiert. Sein Anliegen ist weiter aktuell. Seine Begründung gibt einen Überblick über die soziale Situation in unserer Stadt, in den Blick genommen wird insbesondere die wachsende soziale Polarisierung.

Der SPD-Antrag im Wortlaut: „Einführung eines „Erlangen-Passes“ zur Integration bedürftiger Menschen

Antrag zum Kultur- und Freizeitausschuss (KFA), Jugendhilfeausschuss (JHA), Sozial- und Gesundheitsausschuss (SGA), Sportausschuss (SportA), Kuratorium der Volkshochschule

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

der erste – und bisher einzige – Erlanger Armutsbericht dokumentierte Anfang der 90er in Zahlen und Fakten, dass knapp 10% der Erlanger Bevölkerung nach der Definition der Europäischen Gemeinschaft in Armut lebte. Besonders betroffen waren vor mehr als 10 Jahren alte, alleinstehende Menschen und Familien mit Kindern, vor allem Alleinerziehende.

Der Armutsbericht der Bundesregierung und seine aktuelle Fortschreibung zeigen deutlich, dass sich gesamtgesellschaftlich die Situation kontinuierlich verschärft hat. Es muss davon ausgegangen werden, dass Erlangen hiervon keine Ausnahme bildet. Zwar liegen bedauerlicherweise keine aktuellen Zahlen vor, es gibt jedoch viele Hinweise, dass sich auch in unserer Stadt Armut weiter verfestigt hat. Es ist an dieser Stelle hinzuweisen z.B. auf die intensive Nutzung der „Erlanger Tafel“ oder die zunehmende Nachfrage nach billigem Wohnraum.

Das zeigt: Die wirtschaftliche Lage einer wachsenden Anzahl von Menschen aus unterschiedlichen Schichten unserer Gesellschaft wird z.B. aufgrund von (Langzeit)arbeitlosigkeit, aber auch im Rahmen von zunehmenden gering entlohnten Beschäftigungsverhältnissen immer schwieriger. Diese Polarisierung unserer Gesellschaft wird mittlerweile allgemein konstatiert. Um der damit zwangsläufig einhergehenden Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung entgegen zu wirken, müssen Kommunen besondere Anstrengungen zur Integration unternehmen mit dem Ziel, die gleichberechtigte Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens zu gewährleisten.

Insbesondere wird immer wieder von Sozialverbänden und auch in persönlichen Gespräch berichtet, dass angesichts der Lage arbeitsloser Menschen – und hier insbesondere der ALG II-BezieherInnen – deren Möglichkeiten der Teilhabe immer problematischer wird. Für Menschen in wirtschaftlich und sozial schwierigen Lebensslagen ist der gleichberechtigte Zugang zu Bildung Kultur und Gesundheitsförderung unabdingbar, um Selbsthilfekräfte zu unterstützen oder zu mobilisieren

Dies gilt in besonderem Maße für Familien. Wo zu hohe Eintrittspreise und Gebühren Hürden schaffen für gleichberechtigte Teilhabe, werden hier außerdem Zukunftsperspektiven für die betroffenen Kinder und Jugendlichen verbaut. Diesen Gefahren müssen familienfreundliche Kommunen als erste Instanz der Staatlichkeit sensibel begegnen. Die Sicherung der Teilnahme an (Weiter)bildungsangeboten, kulturellen und sportlichen Aktivitäten fördert die Integration, erhöht die Bildungschancen und ist aktive Gesundheitsvorsorge.

Wenn die finanziellen Rahmenbedingungen der Kommunen derzeit keine kostenlosen Zugang oder niederschwellige Gestaltung von Eintrittspreisen und Gebühren städtischer Angebote zulassen, muss der Benachteiligung zumindest personenbezogen gegengesteuert werden.

Wir stellen daher folgenden Antrag:

  1. Wie bereits in anderen Städten – z.B. in Nürnberg – wird auch in Erlangen eine Karte, ein Pass o.ä. an bedürftige Personen ausgegeben, um eine Reduzierung der Eintritte und Gebühren in Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie in Sportstätten, z.B. den Bädern, u.ä. zu ermöglichen. Eine derartige Förderung ist personen- und zweckgebunden. Dadurch wird sichergestellt, dass sie ausschließlich den tatsächlich Bedürftigen zugute kommt.
  2. Die Einführung des „Erlangen Passes“ soll so schnell wie möglich erfolgen.
  3. Die Verwaltung wird beauftragt, Vorschläge zu unterbreiten, wie der Personenkreis sinnvoll definiert werden kann.
  4. Die Verwaltung wird beauftragt aufzuzeigen, wie die Kooperation und die Finanzierung mit den beteiligten Ämtern und Dienststellen erfolgen kann.“

Dieser Antrag wurde in allen oben aufgeführten Fachausschüssen beraten und abgestimmt. Unterstützung erhielt das Anliegen neben den SPD-Stimmen von der Grünen Liste und der ÖDP in allen Ausschüssen und im Stadtrat, vom Kuratorium der Volkshochschule (nahezu einstimmig, dagegen: Die CSU), von den VertreterInnen aus Verbänden, Institutionen und Kirchen, die teils beratend, teils stimmberechtigt dem SGA und dem JHA angehören. Die evangelischen PfarrerInnen wandten sich mit einem offenen Unterstützer-Brief an den Oberbürgermeister. Vergeblich.

Wichtige Argumente für Integration und gleiche Chancen

Hier die wichtigsten Argumente aus meiner Stellungnahme in der Stadtratssitzung im November 2006:

„Ich spreche nicht von Unterschicht, nicht von Prekariat, ich spreche von Armut. Das verschleiert nicht, das versteht Jeder. Angesichts der Armutsentwicklung in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, halten wir es für dringend erforderlich, dass Menschen in wirtschaftlich und sozial schwierigen Lebenslagen der gleichberechtigte Zugang zu Bildung, Kultur, Gesundheitsförderung und Sport ermöglicht wird. Gerade in Erlangen haben wir eine besondere Verpflichtung. Die überproportional vielen Gutverdienenden und Gutgebildeten verstellen oftmals den Blick für die Präsenz der Armut und fortschreitenden Polarisierung.

Aus der Sicht der SPD wäre es am besten, wenn wir zum Beispiel die Nutzung von Stadtbücherei, Jugendkunst-, Sing und Musikschule, den Eintritt in die Schwimmbäder u.ä. für unsere Kinder und Jugendlichen ganz kostenfrei oder zu deutlich niedrigeren Preisen ermöglichen könnten.

Da dies aber mit den derzeitigen Mehrheiten nicht möglich ist, wollen wir die Einführung des Erlangen Passes.

  1. Er soll ein Signal sein an die von Armut Betroffenen, dass sie nicht ausgegrenzt sein sollen. Er ist ein Beweis für den politischen Willen zur Integration.
  2. Er ist eine Aufforderung, Angebote aktiv wahr zu nehmen. Er soll neugierig machen.
  3. Er muss gekoppelt sein mit kompakter Information über Angebote und Ermäßigungen.“

Die Ablehnungsgründe…..

„Es gibt bereits genug ermäßigte Angebote. Die einzelnen Einrichtungen halten Informationen bereit.“

Das reicht nicht. Die Betroffenen müssen aktiv informiert werden. Mit einem Blick muss erkennbar sein, was es wo gibt. Die Menschen, von denen wir heute reden, wissen häufig gar nicht über die Angebote in ihrer Stadt Bescheid. Wer nicht Bescheid weiß, holt auch keine Informationen ab. Durch den Pass wird das Recht auf Inanspruchnahme von Ermäßigung gewährleistet. Es muss nicht gebeten oder gar ein Rabatt ausgehandelt werden. Das sind zwei wichtige Hemmschwellen weniger.

„Der bürokratische Aufwand ist zu hoch.“

Das ist ein äußerst schwaches Argument in einer Stadt, die sich ihrer Erfolge als e-city rühmt und für e-government jedes Jahr zweistellige Millionenbeträge ausgibt. Wir haben die Aktiv-Card für Ehrenamtliche, es gibt den Tafelausweis. Überall in der Verwaltung wird PC-gestützt gearbeitet. Da kann ein solcher Ausweis weder finanziell noch organisatorisch ein Problem sein.

„Wir brauchen den EP nicht. Im Regelsatz von 345 Euro sind 40 Euro für kulturelle Teilhabe berücksichtigt.“

Statistik hat oft nichts mit Lebenswirklichkeit zu tun. Dazu ein Zitat einer Teilnehmerin aus dem BIG-Projekt (Forschungsprojekt der FAU zur Gesundheitsförderung von Frauen in Armut): „Ich bin jeden Tag froh, wenn meine Kinder was Ordentliches zum Essen auf dem Teller haben. Für einen Sportkurs reicht das Geld nicht.“ Das Projekt hat bereits bewiesen: Das Interesse ist da. Aber Angebot, Information und Preis müssen stimmen. Die VHS hat unlängst eine Untersuchung ihrer HörerInnenstruktur durchgeführt. Resultat: Menschen aller Altersgruppen mit niedrigem Einkommen, insbesondere Frauen mit Kinder, fehlen völlig. Die wurden mit der massiven Kürzung der Rabatte durch die STR-Mehrheit längst vergrault. Würden wir solche Untersuchungen in der Stadtbücherei und anderswo durchführen, kämen wir ganz sicher zu gleichen Ergebnissen. Aber das ist nicht gewollt. Die Fortschreibung des Armutsberichtes bzw. die Erstellung eines Sozialberichtes wird seit Jahren abgelehnt.

„Es wird ein Mitnahmeeffekt befürchtet. Die Motivation der Betroffenen, z.B. der Arbeitslosen, wieder Arbeit aufzunehmen, könnte gesenkt werden.“

Mitnahmeeffekte durch die Nutzung sozialer, kultureller und sportlicher Angebote sind aus unserer Sicht ausdrücklich erwünscht. Wir wissen aus der täglichen Erfahrung in der Jugend- und Sozialarbeit, dass gerade diese Aktivitäten das Selbstbewusstsein und die Motivation zu mehr Eigeninitiative stärken. Das Beispiel im Sachbericht, mit dem die Ablehnungs-These unterlegt wird, ist zynisch. Es ist eine völlig verfehlte Entgegensetzung, dass es besser sei, einen Jugendlichen dazu anzuhalten, den Hauptschulabschluss nachzuholen als ihm kostenlosen Eintritt ins Schwimmbad zu ermöglichen. Beides zusammen macht Sinn. Gerade Sport fördert das Durchhaltevermögen.

„Wir setzen den Schwerpunkt auf die Umsetzung von Hartz IV.“

Gut. Aber das reicht nicht. Wir wissen, dass Armut vielfach durch Arbeitslosigkeit ensteht, aber auch durch mangelnde Bildung und fehlende kulturelle Teilhabe verschärft und verfestigt wird. Die Wenigsten unserer Hartz IV-Betroffenen werden in lukrative Jobs vermittelt. Es bleibt auch mit Arbeit oft genug knapp. Deswegen ist die gleichzeitige Teilhabeförderung unabdingbarer Bestandteil vorbeugender Sozialpolitik.

CSU/FDP/FWG: Private Wohlätigkeit statt kommunaler Daseinsvorsorge

Diese Ablehnungsgründe sind Ausdruck einer neoliberalen Sozialpolitik, die sich darauf verlässt, dass es z.B. der Obdachlosentreff, die Tafel und die Kleiderkammern der Wohlfahrtsverbände und Freude für Alle schon richten werden, Um nicht missverstanden zu werden: Das sind Einrichtungen und Projekte, die nicht nur unsere größte Hochachtung, sondern weit mehr finanzielle Unterstützung verdienen, als diese STR-Mehrheit ihnen zu geben bereit ist. Ganz selbstverständlich wird ihnen die Zuständigkeit dafür zugeschoben, dass die Armen dieser Stadt satt werden, sich ordentlich kleiden und ab und zu mal richtig glücklich sein können. Die Gefahr, das vielfach ehrenamtlich und unentgeltlich erbrachte Engagement immer weiter zu überfordern, wird bewusst in Kauf genommen. Der laute Hilferuf der Tafel, die immer mehr Menschen zu versorgen hat und immer weniger Spenden erhält, ist dafür ein bedenkliches Beispiel.

Die STR-Mehrheit von CSU und FDP/FWG setzt auf private Wohltätigkeit anstelle zielgerichteter kommunaler Daseinsvorsorge.

Mit der Ablehnung des Erlangen Passes wird eine Chance vertan, in gemeinsamer kommunaler Verantwortung einen kleinen, aber wirksamen Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe und Integration zu tun. Die Ablehnung ist ein Armutszeugnis für die Gesundheitsstadt Erlangen.